WM 2010
Wenn mich jemand fragen würde, welches Jahr ich am liebsten mag, würde ich schnell und ohne zu zögern antworten: 2010. 2010 ist mein absolutes Lieblingsjahr, das viele Höhepunkte zu bieten hatte. Die Fußball-Weltmeisterschaft ist eine davon. Warum? Weil meine Lieblingsmannschaft gewonnen hat. Ja, 2010 war wirklich ein schönes Jahr.
Warum ich die WM 2010 am liebsten mag
Es war wieder eines der Jahre mit einem Ereignis, das es nur in Vier-Jahres-Abständen gab: eine Fußball-WM. Dieses Mal war ich um einiges enthusiastischer als noch vier Jahre zuvor. Nicht, weil ich inzwischen älter war, sondern weil ich einen haushohen Favoriten hatte – und das war nicht mein eigenes Land. An diese WM habe ich wie bei den vorherigen zwei Turnieren nicht viele Erinnerungen, aber ich erinnere mich an das Wichtigste.
Unvergessen war sicherlich Paul, der Oktopus. Hatte er vor zwei Jahren noch das Finalspiel falsch vorhergesehen und damit viele deutsche Fußball-Fans verärgert, lag er dieses Mal immer richtig. Er wurde zum Phänomen und durch seine Trefferquote weltberühmt. (Ich frage mich, was eigentlich im Fall eines Unentschiedens gewesen wäre. Futter aus beiden Boxen? Zufälligerweise endete jedoch keines der Spiele unentschieden, weshalb wir es nie erfahren werden.)
Das erste Spiel gegen Australien konnte noch souverän gewonnen werden. Die zweite Vorhersage sorgte jedoch gleich für Aufruhr: Paul tippte auf einen Sieg Serbiens. Jeder war sich einig: Er würde sich irren. Der größte Schock erwartete uns jedoch während des Spiels: Klose bekam die rote Karte. Ein wahrer Schockmoment. An die Reaktionen kann ich mich noch genau erinnern. Keiner konnte glauben, was passiert war. Die Niederlage war nur noch die Spitze des Eisbergs. Mich schockierte die rote Karte eigentlich mehr als dass wir verloren hatten, schließlich hätten wir durch Paul vorgewarnt sein müssen.
Im letzten Gruppenspiel gegen Ghana gab es das Aufeinandertreffen zweier Brüder, die für gegnerische Mannschaften spielten. Ein Sieg war Pflicht, um das Turnier nicht vorzeitig verlassen zu müssen. Fast wäre das Spiel in einem Unentschieden geendet, ehe in der zweiten Halbzeit das rettende Tor fiel. Der Einzug in die KO-Phase war somit gesichert, und auch Ghana qualifizierte sich. Somit ging keine der beiden Mannschaften als Verlierer aus dem Spiel.
England erwartete uns im Achtelfinale. Es war ein äußerst umstrittenes Spiel mit einer klaren Fehlentscheidung. Das zweite Tor für England hätte definitiv zählen müssen. Es war deutlich zu sehen, dass der Ball hinter der Linie war. Am Ende gewann Deutschland, und Paul hatte es wieder gewusst. Vielleicht hatte er England „verflucht“...
Nicht alle waren von dem Oktopus angetan. Die Argentinier waren so wütend, dass sie drohten, ihn zu Essen zu verarbeiten. Mit seiner „Vorhersage“ widerlegte er eine Theorie. Serbiens Wahl wurde damit begründet, dass die Flagge heller sei als die deutsche. Wenn das so ist, warum hatte er sich dann nicht für Argentinien entschieden, obwohl ihre Flagge wesentlich heller ist als unsere? Es war das wiederholte Aufeinandertreffen Deutschlands und Argentinien, die zwei Mal in einem WM-Finale gegeneinander spielten und je einmal gewinnen konnten. Der Sieg brachte uns zum dritten Mal in Folge ins Halbfinale, wo es eine weitere Neuauflage geben würde...
Wie ein einzelner Spieler seine Mannschaft auf Händen trug
Neben Deutschland interessierte uns nur der amtierende Europameister, Spanien. Ihr Start ins Turnier missglückte jedoch aufgrund eines unnötigen Gegentores. Warum die Verteidigung hier nicht reagiert hat, ist mir heute noch schleierhaft. Das Tor wäre leicht zu verhindern gewesen, denn es waren genügend spanische Spieler da, die den Ball hätten abwehren können. Nach der Niederlage, die meine Schwester treffend mit einem Fluchwort kommentierte, musste Spanien seine nächsten zwei Spiele unbedingt gewinnen, um den Einzug ins Achtelfinale zu sichern.
Und in diesen beiden Spielen kristallisierte sich ein Spieler besonders heraus. Ein Spieler, der so brillant war, dass er nach dem Motto „Merkt euch diesen Namen“ seinen ganzen Namen aufs Trikot schrieb. Er war die „Furia“ in „La Furia Roja“. Es war niemand Geringeres als eine gewisse Nummer 7, an die ich mich nur allzu gut erinnern konnte. Er besiegte Honduras quasi im Alleingang, indem er beide Tore schoss. Es hätten sogar drei sein können, wenn er einen Elfmeter nicht verschossen hätte. (Wie konnte er nur? Es würde ihm den Titel des Torschützenkönigs kosten.)
Auch gegen Chile wurde er zum Helden. Er erzielte nicht nur eines der besten Tore (wenn nicht DAS beste Tor) der WM, er bereitete auch ein zweites vor. Meine Schwester und ich waren so begeistert, dass wir einen eigenen Jubelgesang ihm zu Ehren kreirten. Spanien sicherte sich die Tabellenführung und ging so Brasilien aus dem Weg.
Stattdessen kam es zum Derby der Iberer, und erneut konnte es nur einen geben. In Anlehnung an den Spitznamen des Portugiesen mit der gleichen Rückennummer nenne ich ihn DV7. Mit seinem nicht ganz regelkonformen Tor schoss er Spanien ins Viertelfinale – doch da gab es nur ein Problem: den Viertelfinal-Fluch...
Und tatsächlich war das Viertelfinale äußerst dramatisch. Drei Elfmeter innerhalb von vier Minuten für beide Mannschaften, zwei davon wurden vom jeweiligen Torwart gehalten; der andere wurde zwar getroffen, aber für ungültig erklärt, auch wenn meine Schwester und ich nicht verstanden, warum er wiederholt werden musste. In Spaniens Fall waren wir froh darüber, dass daraus nicht ein Tor für Paraguay resultierte. Ein weiterer Elfmeter für Spanien wurde nicht gegeben. Es hätte eine Wiedergutmachung für den Torschützenkönig der EM nach seinem verpatzten Schuss gegen Honduras sein können. Ihm würde sich jedoch eine Chance ohne Elfmeter bieten. Meine Schwester und ich hatten einen kurzen Schreckensmoment, als ein Gegentor fiel. Wir atmeten erleichtert auf, als es nicht gegeben wurde, und auch die Spanier konnten sich über diese Entscheidung glücklich schätzen. Das Spiel wurde zur Zitterpartie und drohte, in die Verlängerung zu gehen. Rettung nahte jedoch und die legendäre Nummer 7 erzielte ein weiteres Traumtor, das den Viertelfinal-Fluch durchbrach. Ihm alleine hatte Spanien den Einzug ins Halbfinale zu verdanken, war er an allen sechs Toren bis zu dem Zeitpunkt beteiligt. Was wäre nur gewesen, wenn er nach dem Spiel gegen Honduras gesperrt worden wäre? Leider würde es sein letzter Treffer bei dieser WM sein.
Deutschlands Gegner für das Halbfinale war somit gefunden. Nach zwei Jahren würden die Finalisten der letzten Europameisterschaft erneut aufeinandertreffen. Paul entschied sich dieses Mal für Spanien, doch aufgrund seines Irrtums beim EM-Finale hofften Deutschland-Fans, dass er erneut falsch liegen würde. Das Halbfinale musste ich alleine schauen, da meine Schwestern zu einem Public Viewing gingen. Leider lief zeitgleich auf einem anderen Sender ein Film, den ich nicht verpassen wollte. Da ich mich nicht entscheiden konnte, wechselte ich schließlich zwischen dem Spiel und dem Film hin und her. Irgendwann vergaß ich jedoch, umzuschalten und schaute den Film. In Wahrheit war ich viel zu angespannt und nervös vor dem Endstand. Mein Herz schlug nämlich für Spanien, die noch nie eine WM gewonnen hatten und denen ich daher den Sieg wünschte. Als ich mir einen Ruck gab und wieder auf das Spiel wechselte, stand es bereits 1:0. Das Tor hatte ich verpasst, und ich war enttäuscht, als ich hörte, wer es erzielt hatte. Darüber sah ich jedoch schnell hinweg, da für mich zählte, dass Spanien im Finale stand. Traurig, dass Deutschland erneut im Halbfinale ausgeschieden war, war ich daher nicht. Hätte Spanien verloren, wäre es anders gewesen. Es war in vielerlei Sicht die Neuauflage des EM-Finales, nur der Torschütze war ein anderer.
Erneut blieb Deutschland nur das Spiel um den dritten Platz und in diesem schoss leider auch Müller ein Tor. Leider, weil er dadurch in der Liste der Torschützen mit der legendären Nummer 7 gleichzog und am Ende aufgrund der höheren Anzahl an Vorlagen den ersten Platz belegte, obwohl Spaniens bester Stürmer den Titel viel mehr verdient hätte. Hätte er nicht den Elfmeter verschossen – oder im Finale getroffen, doch dazu kommen wir später – hätte er wie bereits bei der EM den Goldenen Schuh gewonnen. Es hätte sogar gereicht, wenn die drei Spieler mit ebenfalls fünf Treffern nicht im Halbfinale oder Spiel um Platz 3 ein Tor erzielt hätten. (Hätten nicht alle ihn bekommen können, wie es früher gehandhabt wurde?) Bis zum Halbfinale war er noch der alleinige Anführer der Torschützenliste gewesen. Warum ihm nur den Bronzene Ball verliehen wurde, ist mir ebenfalls unverständlich. Es hätte mindestens silber sein müssen. Hinzu kam nur eine Man of the Match-Auszeichnung, obwohl er sie vier Mal hätte gewinnen müssen. Er bekam immer viel weniger Anerkennung, als er verdiente, was schade ist, war Spaniens Einzug ins Halbfinale allein sein Verdienst.
Die Niederlande galt es zu besiegen, um den ersten WM-Titel zu gewinnen. Leider durfte ich das Finale nicht schauen, da ich am nächsten Tag ausgeruht für die Schule sein musste, worüber ich sehr traurig war. Gerne hätte ich Spanien und vorallem einen gewissen Spieler angefeuert. Paul hatte sich für Spanien entschieden, was ich als gutes Omen ansah. Die Reaktion meiner Schwester, die ich von meinem Zimmer aus hören konnte, sagte alles, und am nächsten Tag bekam ich die Bestätigung, dass Spanien Weltmeister geworden war. Erneut war ich vom Namen des Torschützen enttäuscht, allerdings überwog die Freude über ihren Sieg. Meine Favoriten gewannen normalerweise nämlich nie – außer bei der Europameisterschaft. Sie hatten es so sehr verdient. Allerdings war der Finaltorschütze, dessen Name sich passenderweise auf
fiesta reimte, nun der Held der ganzen Nation und bekam die ganze Anerkennung, obwohl sie einem anderen Spieler viel mehr zustand. Es war äußert zweifelhaft, ob sie ohne ihn überhaupt gewonnen hätten, schließlich war er an sechs von acht Toren beteiligt (die es fast nie gegeben hätte), was eine Quote von 75% stellt – ein Rekord seit 1962. Hätte er doch bloß das Final-Tor geschossen, dann würden ihm alle zu Füßen liegen und er wäre nicht so unterbewertet.
Die Chroniken eines Finales
Das Finale hatte ich nicht verfolgen können, aber ich schaute mir viele Zusammenfassungen an. Sehr viele Zusammenfassungen. Und acht Jahre später schaute ich mir das Finale erstmals in voller Länge an. Die Spanier legten direkt los und hätten nach vier Minuten bereits in Führung gehen können, während die Niederländer damit beschäftigt waren, ihre Gegner zu foulen anstatt Fußball zu spielen. Es verging kaum eine Minute, in der sie kein Foul begingen. Dass nach einer knappen halben Stunde nicht der erste Platzverweis kam, der gerechtfertigt gewesen wäre, war eine Frechheit. Der Tritt sah wirklich sehr schmerzhaft aus und hätte definitiv mit einer roten Karte bestraft werden müssen. In der zwölften Minute bot sich die erste – und meiner Meinung nach beste – Chance für DV7. Ein etwas anderer Winkel und der Ball hätte im Tor anstatt im Außennetz landen können. Danach passierte eine Weile lang nichts, bis er in einer aussichtsreichen Position vor dem Tor stand und seinem Teamkollegen zuwinkte, Pedro ihm den Ball jedoch nicht zupasste und es stattdessen selber versuchte. In der zweiten Halbzeit drohte Spanien in Rückstand zu geraten. Was folgte, war einer der spektakulärsten Paraden. Der spanische Kapitän machte seinem Spitznamen, „der Heilige“, alle Ehre. Die wahrscheinlich beste Rettungsaktion aller Zeiten! Zwischen der 70. und 80. Minute wagte die legendäre Nummer 7 insgesamt vier (!) Versuche, einer davon ein Freistoß. In der 70. Minute war er dem Tor so nah, dass er den Führungstreffer hätte erzielen können, doch der Ball flog in die Luft. Wie konnte er nur verfehlen? Ein niederländischer Verteidiger soll den Ball weggeschossen haben, ich kann jedoch nicht erkennen, dass er ihn mit seinem Fuß berührt hat. Ein Kopfball von
Vamos Ramos (Entschuldigung, ich konnte dem Reim einfach nicht widerstehen) bot die letzte gute Chance in der zweiten Halbzeit. Nach 90 Minuten war noch immer kein Tor gefallen – es hätten mindestens fünf sein können – und das bedeutete Verlängerung. Die spanische 6, 8 und 10 fielen nach Fouls nacheinander zu Boden, was unfreiwillig komisch aussah. Letzterer, Fabregas, ruinierte dann auch noch der legendären Nummer 7 eine große Chance, indem er ihm nicht den Ball zuspielte, obwohl er offen vor dem Tor stand, sondern dem Torwart direkt vor die Füße schoss. Da möchte ich doch glatt meinen Kopf an den Tisch knallen. Minuten später beging auch Iniesta diesen Fehler. Eine weitere Chance würde sich DV7 nicht mehr bieten. Inklusive Abseits komme ich auf insgesamt zwölf gescheiterte Versuche und drei Chancen, die ihm verwehrt wurden. Er wollte wirklich ein Tor in seinem wichtigsten Spiel erzielen, doch es wollte einfach nicht gelingen. Wie sehr ich mir doch wünsche, dass er das Siegtor geschossen hätte... Ein Schuss von Navas Minuten später sah gefährlich nach Tor aus, doch er traf nur das Außennetz. Es blieb die letzte Aktion in der ersten Hälfte der Nachspielzeit. Was sich der Trainer zu Beginn der zweiten Hälfte dann leistete, war eine Unverschämtheit: Er wechselte doch tatsächlich die legendäre Nummer 7 aus! Wie konnte er es wagen? Vielleicht hätte er noch ein Tor geschossen! In einem möglichen Elfmeterschießen hätte er gefehlt, was Grund genug gewesen wäre, ihn weiterspielen zu lassen. Hätte ich das Finale damals live gesehen, hätte ich mich furchtbar aufgeregt! Minuten später gab es dann den lange überfälligen Platzverweis für die Niederlande – allerdings nicht für den Treter, der diesen eigentlich verdient hätte. Die gelb-rote Karte war zwar gerechtfertigt, allerdings nicht für das Foul, für das er vom Platz verwiesen wurde. Iniesta-fiesta hatte etwas übertrieben, denn er war kaum berührt worden. Allerdings hatte der Niederländer die Frechheit besessen, der legendären Nummer 7 ein Bein zu stellen – was allein schon eine Bestrafung verdient, die er mit seiner ersten gelben Karte dann auch bekommen hatte – und das war nicht sein einziges Foul gewesen. Er war es auch, der die große Chance ebenjenem Spielers unterbunden hatte. Ausgerechnet derjenige, der seinen Platzverweis verursacht hatte, würde ihnen die Quittung erteilen und das entscheidende Tor schießen. Der goldene Pass kam von Fabregas, der nun doch entschied, nicht selbst zu schießen – diese Entscheidung hätte er Minuten zuvor bereits treffen sollen – und somit doch noch etwas richtig gemacht hatte. Acht Tore reichten Spanien zum Triumph, der sie zur achten Nation machte, die Weltmeister wurde. Die Acht ist meine Lieblingszahl, was Spaniens Sieg noch besser macht. Es war erst der Anfang in einem Jahr, das noch viele Höhepunkte für mich bereithalten würde...